10 Fragen an…  Dr. Christian Kessler

Mit „10 Fragen“ löchern wir Menschen, deren Beruf eng mit der pflanzlichen Lebensweise verknüpft ist. Dieses mal haben wir den Arzt und Internisten Dr. Christian Kessler ins Kreuzfeuer genommen. Er arbeitet an der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin. Dort ist er Forschungskoordinator und organisiert u.a. den Wissenschaftskongress VegMed, der am 22-24.April in Berlin stattfindet. Warum er das macht, erzählt er euch am besten selbst.

 

  • Was hast du heute Morgen gefrühstückt?

Ich frühstücke morgens am liebsten ein selbstkreiertes Müsli, auf das wir uns als Familie geeinigt haben. Das mögen wir alle. Wir, das sind meine Frau Lea, ich und unser kleiner Sohn Noah. Mein persönlicher Lieblingsmix enthält 2 große EL Haferflocken, Amaranthpops und Quinoapops zu gleichen Teilen, dazu rohe Kakaonibs und Nüsse (Paranüsse, Walnüsse, Cashewnüsse, Haselnüsse und Mandeln), ein paar Rosinen und darüber Leinsamen. Im Moment kommen auch noch Chiasamen dazu, wobei mir diese ein wenig zu schleimig sind (Anmerkung Julia: und viel zu teuer). Möglichst alles bio. Dann kommt mein absoluter Lieblingsapfel dazu, Topas. Der ist einfach so wunderbar saftig und lecker. Und das ganze wird anschließend mit Reismilch übergossen. Das ist mein Lieblingsfrühstück. Dazu trinke ich gerne schwarzen Tee (Assam) mit einer Prise Zimt, Kardamomsaat und einer Prise echter Vanille, Ingwer (frisch) und meistens mit Reis- oder Hafermilch. Am Wochenende sehne ich mich manchmal auch nach Kuhmilch von Demeter, so wie der originale Chai in Indien eben getrunken wird.

Mehr Frühstücksideen findet ihr hier
  • Was machst du beruflich und warum?

Ich bin Arzt und Internist, Schwerpunkt Naturheilkunde und arbeite an der Charité Hochschulambulanz für Naturheilkunde am Immanuel Krankenhaus Berlin. Ich bin dort Forschungskoordinator, aber auch in der Ambulanz tätig. Mein persönlicher Tätigkeitsschwerpunkt ist die traditionelle indische Medizin, also Ayurveda, Yoga, Meditation sowie Fastenmedizin, Phytotherapie, Mind-Body-Medizin und alles was unter dem Begriff Komplementärmedizin verstanden wird.

VegMed Ankündigung
Die VegMed ist der einzige Kongress seiner Art. Internationale, renommierte Ärzte & Forscher werden Vorträge halten.

Warum?

Weil ich davon überzeugt bin, dass eine Medizin, die den ganzen Menschen im Blick behält, sinnvoll ist und uns weiter bringt – medizinisch und menschlich. Sie bringt uns in Kontakt mit anderen Menschen. Sie schult unsere Selbstwahrnehmung, also die Kontaktaufnahme mit unserem Wesenskern. Ich empfinde es als etwas sehr Heilendes und Zusammenführendes. Deshalb finde ich Naturheilkunde gut. Und das Ganze steht auch nicht im Widerspruch zur Naturwissenschaft und Sachlichkeit. Natürlich kann man Naturheilkunde auch unsachlich und unseriös betreiben. Wir an unsrem Institut versuchen, die Naturheilkunde wissenschaftlich fundiert zu praktizieren, sodass all die genannten Themenbereiche inklusive vegetarischer Ernährung ihren Platz in der Gesellschaft finden können.

  • Wie kamst du zur veganen bzw. vegetarischen Ernährung?

Das war ein ganz einfacher Zufall, wenn man es so nennen will. Ich habe als 18-Jähriger eine Schwedin kennengelernt, die ich extrem toll fand. Das war meine erste große Liebe und sie war Vegetarierin. Sie hat als Bedingung für jeden weiteren Kontakt die vegetarische Ernährung von meiner Seite festgelegt. Mein Einstieg war erstmal rein liebesmotiviert und hat sich seitdem gehalten. Inzwischen bin ich etwa 20 Jahre Vegetarier, mit einer kleinen Unterbrechung während meiner Studentenzeit von ca. 1,5 Jahren. Ich lebe zu 70-80 % pflanzenbasiert und kann mich von einigen Dingen nicht trennen. Zum Beispiel Käse. Ein Leben ohne Appenzeller wäre für mich ein Trümmerhaufen. Das wäre sicher das letzte in diesem Prozess hin zur veganen Ernährung, von dem ich mich trennen würde. Ich habe sehr viel Wertschätzung für das Handwerk von Käse und Milchprodukten. Mir ist klar, dass sehr vieles aus gesundheitlicher und ethischer Sicht dafür spricht, auf Milchprodukte zu verzichten. Kulinarisch fällt es mir einfach noch ein bisschen schwer. Ich versuche, auch in meiner Praxis meinen Patienten zu vermitteln, dass eine massive Reduktion von Fleisch, Fisch, sowie Milch und Eiern gesundheitsförderlich ist. Daher würde ich sagen, ich bin inzwischen ein liberaler Vegetarier, der mit der veganen Bewegung sympathisiert.

  • Dafür stehe ich morgens auf:

(Lange Pause) Das ist eine echt gute Frage. Als erstes fällt mir natürlich mein kleiner Sohn Noah ein, weil er so unglaublich süß und witzig ist, da lohnt sich das Aufstehen allein schon deswegen. Meine Frau Lea natürlich auch genauso. Also wenn ich die beiden Gesichter morgens sehe, höre und rieche, dafür lohnt sich das Aufstehen auf jeden Fall. Ansonsten stehe ich auf, weil ich der Meinung bin, dass es sich lohnt, Dinge zu verändern im Leben und krumme Wege zu gehen und Erfahrungen zu sammeln. Über leidvolle Erfahrungen zu wachsen, in Kontakt mit anderen Menschen zu kommen und zu experimentieren, zu lachen, zu weinen. Es gibt so viele Gründe, warum sich das Aufstehen lohnt. Manchmal lohnt es sich auch nicht.

  • Was hat sich durch die vegane bzw. vegetarische Ernährung für dich verändert?

Ich habe dadurch „Beziehung“ gelernt. Ich weiß nicht ob sie mich geknutscht hätte, wenn ich „Nein“ gesagt hätte. Aber ich bin dadurch in Kontakt gekommen mit dem Begriff „Beziehung“. Das klingt vielleicht übertrieben. Ich glaube das Vegetarier-Sein bringt mich mehr in Kontakt mit anderen Menschen. Ich habe das Gefühl, es bringt mich vor allem auch in schöne Beziehungen zu anderen Menschen und Lebewesen, weil ich sie leben lasse und weil ich Leute um  mich habe, die empathisch sind, mitfühlend, achtsam. Egal ob sie selbst Vegetarier sind oder nicht. Ob sie sich schon Gedanken machen über das Nicht-Fleisch-Essen oder mit dem Thema sympathisieren. Es bringt mich teilweise in kontroversen Kontakt mit Menschen, die anderer Meinung sind, die darüber diskutieren wollen, eine Anti-Haltung haben, aber auch da bin ich in Kontakt. Ich finde schön, welche Dynamik das Vegetarier-Sein entfaltet, dieses Nicht-Verletzen. Für mich wurde das Konzept der Gewaltlosigkeit, ahimsa, sehr wichtig. Es fühlt sich einfach gut an, nicht noch mehr Tod in uns zu tragen, also sowieso schon in uns ist, weil wir alle irgendwann einmal sterben (und vielleicht wiedergeboren) werden. Ich habe das Gefühl, ich bin dann erstmal nur mit meinem eigenen Thema in Kontakt und muss nicht noch andere Kreaturen mit hineinziehen. Es hat auf jeden Fall viele Facetten. Wahrscheinlich würde ich auch nie da arbeiten, wo ich jetzt arbeite. Vielleicht hätte ich auch nie Medizin studiert. Es ist so ein bisschen wie dieses Bild mit dem Flügelschlag des Schmetterlings. Ich glaube dieser Schmetterling hat auf jeden Fall viele Flügel und sehr häufig geschlagen und damit in meinem Leben viel verändert und sicher auch im Leben anderer Leute.

Wie Fleischessen geht, wissen fast alle Menschen. Wie Nicht-Fleischessen geht, wissen viele Leute nicht. Ich finde es spannend, das Unbekannte zu erforschen.

  • Dein blinder Fleck oder deine größte Herausforderung im Leben?

Ich glaube, mein Leben ist voller blinder Flecken. In dem Zusammenhang bin ich super dankbar darüber, dass ich die GfK (Gewaltfreie Kommunikation) kennen gelernt habe. Dadurch entwickle ich zunehmend ein Bewusstsein für die vielen blinden Flecken in meinem Leben und kann es auch schön finden, diese blinden Flecken zu haben. Ich bin ganz froh mit meiner Imperfektheit und meinen Unzulänglichkeiten, diese zu erkennen und zu akzeptieren und zu nutzen. Ich glaube, ein großes Thema ist Wut. Unausgelebte Wut. Internalisierte Wut. Und ich glaube, die wäre noch schlimmer, wenn ich Fleisch essen würde. Daher hat die vegetarische Ernährung auch was Therapeutisches, was Kühlendes, Umarmendes, ja etwas Lebendiges. Ich glaube, das hält meine Wut im Zaum. Ja, sie ist mein Lebensthema, aber das wissen nicht so viele Leute. Dazu gehört auch Wut auf mich selbst.

  • Worin siehst du das größte Risiko veganer und vegetarischer Lebensweise oder der Bewegung?

Das größte Risiko für die vegane Bewegung sehe ich darin, in Selbstgefälligkeit und Überheblichkeit und scheinbarer moralischer Überlegenheit zu ersäufen. Und das geht mir manchmal total auf die Nerven. Ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass ich mit meinem Gemüt eher pragmatisch bin und durch mein Arzt-Sein alltagsnahe Lösungen zu stricken versuche. Patienten dort abzuholen, wo sie sind. Mir sind das Moralisieren und der Pathos und die Schwarz-Weiß-Malerei einfach zutiefst zuwider. Dagegen ist mir die Fehlerhaftigkeit an Menschen meistens das, was sie mir am nächsten bringt. Ich kann mit diesem perfekten total integren Bild des Menschen einfach absolut nichts anfangen und wünsche mir, dass diese Bewegung auch ganz viel Liebe tankt, ganz viel Empathie und Mitgefühl für die Menschen hat, die sich nicht so verhalten können, wie wir uns das wünschen. Ich wünsche mir, dass wir dadurch keine Kategorien aufmachen von besseren und schlechteren Menschen. Ich glaube, dass jeder Mensch in jeder Situation versucht das Beste zu machen, auch unsere (scheinbaren) Widersacher. Es ist ein riesiger Fortschritt, wenn ein Mensch in einer Woche eigentlich seit Jahren 5 Schnitzel isst und dann vielleicht nur noch 3 Schnitzel.

  • Das willst du allen vegan und vegetarisch lebenden Menschen sagen:

Take it easy.

  • Und allen Nicht-Veggies?

Vielleicht möchte ich sie einladen, mal zu experimentieren, d.h. mal eine Woche oder einen Monat vegan zu leben, es spielerisch anzugehen. Wie Fleischessen geht, wissen fast alle Menschen. Wie Nicht-Fleischessen geht, wissen viele Leute nicht. Ich finde es spannend, das Unbekannte zu erforschen. Mal ein paar Wochen auf etwas zu verzichten, wobei es kein Verzicht ist, sondern eher ein Eintauschen und Ergründen von Unbekanntem. Oft ist mir die Diskussion zu verkopft. Denn wenn wir über Essen reden, sollte das nicht im Kopf stattfinden, sondern es sollte im Mund, in der Nase, ja im ganzen Körper passieren.

  •    Dein Lieblingsobst und Lieblingsgemüse

Ich finde inzwischen einen richtigen geilen Apfel sensationell. Wenn so ein Apfel, also ein perfekter Apfel, nicht zu mehlig, mit schöner Säure, wo man so im Mund das Gefühl hat, „Wow, ist der lecker und gesund“ am besten. Und der auch noch so eine schöne Farbe hat. Das find ich echt gut.

Ich find Broccoli ziemlich lecker, zunehmend auch Fenchel. Aber wenn ich mich für eins entscheidend müsste, dann wäre es Broccoli. Der sieht auch so nett aus, so ein schönes tiefes Grün, diese Blüten, die ganze Kraft, die darin steckt und dieser nussige Geruch – einfach gut.

  •   Das kommende Jahr widme ich besonders diesem Thema:

Das kann ich dir ganz klar sagen: Wir haben im März unser zweites Kind bekommen und dieses Jahr wird auf jeden Fall im Zeichen der Demut stehen. Weil das Kriegen eines zweiten Kindes als Familie eine Herausforderung ist. Aus einem Dreieck wird ein Viereck. Das Jahr steht im Zeichen des Kindseins, der kindlichen Bedürfnisse und kindlichen Staunens und Unzulänglichkeiten im Management des Alltags. Und Stress, Schönheit, schlechter Schlaf. Und ein duftender Säugling.

Ich danke dir, Christian, von Herzen für deine Zeit, den Tiefgang und die ehrlichen, ja wesentlichen und inspirierenden, Worte. Am Ende möchten wir mit dir gemeinsam noch auf die VegMed (www.vegmed.de), einem einzigartigen, internationalen Ärztekongress in Berlin hinweisen, der am 22-24.4.2016 in Berlin stattfindet. Dort sehen wir dich dann spätestens alle wieder. Alles Gute für deine Familie und ein wunderbar viereckiges Jahr 2016!
Das Interview führte: Julia Schneider
VegMed
Der Publikumstag „Open VegMed“ ist auch für Menschen geöffnet, welche sich nicht beruflich mit gesundheitlichen Fragen beschäftigen, aber interessiert sind.